Ein Gastbeitrag von Johanna
Aufgewachsen auf dem Land, wollte ich schon lange von dort weg. Weg von all dem, was dort geschehen war und mich eingeengt hat. Die große weite Welt sehen. Mit 18 ein erstes Aufatmen, denn ich ging studieren und zog in eine neue Stadt. Studiert, gereist, erstes Arbeitsjahr begonnen, ausgewandert. Immer wieder habe ich mich Zuhause und dann doch fremd gefühlt. Immer wieder wollte ich Neues erleben und mich neu erfinden, bis irgendwann dieses unwohle Gefühl in mir aufkam, dass etwas nicht stimmte. Als ich am weitesten entfernt von dem Ort, an dem ich aufgewachsen war, konnte ich das erste Mal in mich hineinfühlen. Diesem Gefühl in mir nachgehen. Ich nannte damals schon nach wenigen Tagen Göteborg und damit Schweden mein neues Zuhause. Nie habe ich mich so wohl gefühlt an einem Ort. So akzeptiert. Bis die Eindrücke von außen irgendwann nicht mehr nur neu und aufregend waren, sondern Alltag wurden. Bis die Energie nicht mehr für tägliche Aktivität ausgereicht und der Körper Pausen eingefordert hat. Bis die Geräusche im Außen nicht mehr lauter waren als die im Inneren. Bis ich gemerkt habe, dass mich vielleicht die Außenwelt akzeptiert, aber ich mich tief in meinem Inneren selbst nicht akzeptierte.
Dort, wo ich am weitesten weg von Zuhause war, dem Ort mit allen Menschen, die ich kannte, konnte ich das erste Mal in mich hineinschauen und erkennen, dass es mir nicht gut ging. All die Jahre waren es nicht die äußeren Umstände, die mich haben aufbrechen und neu anfangen lassen, sondern meine inneren Monster, die mich getrieben haben. Einmal einen Lichtblitz durch die dicke Mauer um mein Herz herum entdeckt, wurde das Loch immer größer und ich konnte sehen, was in mir vorging. Essstörung, Depression, Ängste, Selbstzweifel, Selbsthass, nicht diagnostiziertes ADHS, unendliche Erschöpfung. Nebenbei habe ich versucht, das weiterzumachen, was ich immer gemacht habe: zu arbeiten und im Außen etwas zu ändern. Ein Jobwechsel und der Versuch, mir Hilfe zu suchen in einem unbekannten Gesundheitssystem. Die erste Krankschreibung nach dem Jobwechsel. Monatelang habe ich versucht, mich über Wasser zu halten, doch irgendwann konnte ich nicht mehr. Nicht mehr weitermachen, durchhalten, kämpfen, alleine sein.
Ich musste den Ort verlassen, den ich zuletzt mein Zuhause genannt hatte, um an den Ort zurückzukehren, den ich zuallererst mein Zuhause genannt hatte: zu meinen Eltern aufs Land. Erstmal war ich im Widerstand mit all dem, wovor ich schon vor vielen Jahren weggelaufen bin. Doch trotz allem machte sich ein Gefühl der Sicherheit in mir breit, das mir ermöglichte, innezuhalten. Die tiefe Verbindung mit der Natur gab mir Halt und ließ mich trotz allem Schmerz Schönheit in einzelnen Momenten sehen. Ich hatte Zeit, mich mit meinem Inneren, meinen Krankheiten und der Mauer um meinem Herzen auseinander zu setzen. Mit meinem wahren Zuhause. All die Jahre war mein wahres Zuhause gefüllt gewesen von Angst, Selbsthass, Bestrafungen, harten Regeln und vielem mehr. Ich habe immer versucht, auszubrechen und mich davon freizumachen, aber eben nur im Außen. Im Inneren war ich gefangen in einem Gefängnis und hockte zusammengekauert in einer dunklen Ecke.
Die Sommermonate verbrachte ich also bei meinen Eltern im großen Garten, mit nichts als Natur um mich herum. Diese Zeit habe ich gebraucht, um erstmal anzuerkennen, dass ich krank war und wirklich dringend Hilfe brauchte. Immer noch mit dem Gedanken an mein Zuhause in Göteborg hängend, kehrte ich jedoch in die Stadt zurück, in der ich studiert hatte, um dort Anbindung im Hilfesystem zu finden. Auf dem Land war das System dünner ausgebaut als in der Stadt und immer noch triggerte mich zu viel, um länger an meinem Geburtsort zu bleiben. Innerlich hat es mich zerrissen, meine Wohnung in Schweden aufzugeben, doch war es das, was gerade richtig war.
Seit einigen Jahren arbeite ich nun schon an mir selbst, habe unterschiedliche Therapien gemacht, Coachingprogramme durchlaufen und habe mich nie so zuhause gefühlt wie heute. Die Essstörung habe ich hinter mir gelassen, mit depressiven Phasen weiß ich sehr bewusst mit umzugehen. Jeden Tag sage ich mir, wie sehr ich mich liebe, wie dankbar ich für die letzten Jahre bin und lebe friedlicher denn je mit mir. Ganz unabhängig davon, wo ich bin. Schweden ist weiterhin mein Herzensland, mein inneres Heimatland und ich weiß ganz genau, dass ich eines Tages wieder dort wohnen werde. Die Umgebung dort löst eine unendliche innere Stille in mir aus, wie ich sie nirgends sonst spüre. Doch dies ist nur möglich, weil ich in mir aufgeräumt und meine inneren Monster gegen innere Liebhaber getauscht habe.
Johanna
Johanna fühlt sich am wohlsten am offenen Meer oder von Bäumen umgeben. Zu Kaffee und Kuchen wird niemals nein gesagt, genauso wenig wie zu der Möglichkeit, nach Schweden zu fahren. Nicht nur freizeitlich spielt das Thema mentale Gesundheit eine große Rolle, sondern auch beruflich.
Hallo Johanna.
Als ich deinen Gastbeitrag hier gelesen habe, dachte ich, das könnte genau von mir sein. Ich bin auch mit 18 von meinem eigentlichen „Zuhause“ ausgezogen – weit weg von den schlimmen Dingen, die ich dort in den 18 Jahren erleben musste – in ein neues Zuhause, von dem ich schon als Kind geträumt hatte: in meine geliebten Berge in Vorarlberg (Österreich). Doch es dauerte nicht lange, da zog der Alltag ein und mit ihm auch meine Probleme, die mir einfach nachreisten.
Nach ein paar Jahren in Österreich zog ich wieder zurück in meine Heimat nach Idar-Oberstein. Lange hielt ich es dort nicht aus – zu sehr verfolgten mich die Erinnerungen an mein dysfunktionales Zuhause, an jeder Ecke. So zog ich erneut nach Vorarlberg, in der Hoffnung, diesmal meinen Frieden zu finden. Doch man kann es sich schon denken: Nach kurzer Zeit holte mich die Realität wieder ein. Ich war zwar in meinen geliebten Bergen, aber irgendetwas war einfach nicht vollständig. Nach einem Jahr ging es dann wieder zurück nach Idar-Oberstein, von dort ins Saarland, dann wieder zurück, in den Bayerischen Wald, Heimat, Allgäu – und nun bin ich seit sechs Jahren wieder in meiner Geburtsheimat, aber nicht mehr in Idar-Oberstein. Ich befinde mich ständig auf der Flucht – vor mir selbst, meiner Vergangenheit und meiner tiefen Depression. Mittlerweile habe ich das erkannt und ich weiß: Egal, wo ich hinziehe – die Probleme, die Erinnerungen, die Depression – all das zieht mit mir an diese neuen Orte, wenn auch etwas mit Verspätung. Ich fühle mich nirgends wirklich zu Hause, nirgends wirklich angekommen. Verloren in einer großen Welt, die von Schicksalsschlägen, dem Verlust der wichtigsten Menschen und von einer Kindheit geprägt ist, die voller Angst, psychischem Missbrauch und körperlicher Gewalt war.
Auch ich habe neben der Depression noch einige Diagnosen: Essstörung, AD(H)S im Erwachsenenalter, komplexe posttraumatische Belastungsstörung und noch so einiges mehr. Ich kenne Selbsthass und Selbstzweifel nur zu gut. Ich mache schon seit meiner Jugend Therapie nach Therapie – Medikamente bis hin zur Elektrokrampftherapie – doch nichts hat mir bisher nachhaltig geholfen.
Seit einiger Zeit schreibe ich wieder einen Blog, um dem Unfassbaren Worte zu geben und anderen Mut zu machen, ihr Schweigen zu beenden. Ich schreibe den Blog auch, um meine eigenen Gedanken und Erlebnisse zu ordnen.
Ich weiß nicht, ob ich wieder in meine geliebten Berge ziehen werde – das wird die Zukunft zeigen. Vielleicht muss ich lernen, mein kleines Zuhause in mir selbst zu finden. Erst dann werde ich mich vielleicht irgendwo wirklich zu Hause fühlen.
Danke für deinen Beitrag, der mir so aus der Seele spricht.
Lieber Patrick,
vielen Dank für dein Vertrauen und deine Offenheit. Deine Geschichte berührt und sicher finden sich auch darin einige wieder. Das Bloggen scheint ein wichtiger Teil der Verarbeitung für dich zu sein, behalte das unbedingt bei, wenn es dir hilft! Vielleicht ist zu Hause wirklich etwas, das wir letztendlich nur in uns selbst finden können.
Liebe Grüße
Das Team von Locating Your Soul