Einmal angehörig, immer angehörig?

Wie das Angehörigen-Sein die Identität prägt und was es durcheinanderwirbelt

CN: Tod, Sucht

Ich bin als Kind eines alkoholkranken Vaters aufgewachsen. Wenn ich an meine Kindheit denke, sehe ich Bierflaschen und glasige, blaue Augen. Ich höre das Klappern von Glas, das mich nachts regelmäßig aus dem Schlaf gerissen hat. Ich spüre Angst und Unsicherheit. Überforderung, wie ich mit der Situation umgehen soll. Wie ich mich verhalten soll.

Die Erkrankung meines Vaters und der familiäre Umgang damit haben mich geprägt. Wahrscheinlich sogar mehr als mir bewusst ist. Lange Zeit hatte ich keine Worte für das, was bei mir zuhause nicht stimmte. Zum einen, weil ich es anfangs nicht verstanden habe und einordnen konnte. Zum anderen, weil nie jemand darüber gesprochen hat.

Zugehörig und weniger allein

Später habe ich gemerkt, wie wichtig es ist, Worte zu haben. Meine Gedanken, Sorgen und Ängste ausdrücken zu können. Selten verbal, aber häufig schriftlich. Ich habe angefangen, mich in das Thema Sucht einzulesen. Dabei bin ich auch auf Erfahrungsberichte von anderen gestoßen, die mit einem alkoholkranken Elternteil aufgewachsen sind. Es tat unheimlich gut, zu merken, dass ich mit meinen Ängsten und auch mit meinen Schuldgefühlen nicht alleine bin.

In diesem Zusammenhang ist mir auch der Begriff „Angehörige“ zum ersten Mal begegnet. Mich selbst als Angehörige zu benennen, hat dem Teil meiner Identität, der von meinen Erfahrungen rund um die Erkrankung meines Vaters geprägt ist, einen Namen gegeben. Gleichzeitig hat es mir ermöglicht, mich der Gruppe der Angehörigen zugehörig zu fühlen und damit auch weniger allein.

Identitätskrise

Vor einigen Jahren ist mein Vater verstorben. Seitdem beschäftigt mich immer wieder die Frage: Darf ich mich weiterhin als Angehörige betiteln? Ich mache schließlich keine neuen Angehörigen-Erfahrungen mehr. Habe keine betroffene Person mehr in meinem Umfeld, um die ich mir Sorgen mache und mit der ich einen Umgang finden muss. Aber ich habe schließlich trotzdem jahrelang Erfahrungen als Angehörige gemacht, die nicht einfach mit dem Tod meines Vaters verloschen sind.

Julia Paar, Kommunikationsreferentin beim Bundesverband Angehörige psychisch erkrankter Menschen (BApK) sagt:

„Der Begriff Angehörige ist nicht klar definiert. Jede Person, die sich der Gruppe zugehörig fühlt, ist es auch. Ob es die beste Freundin, der Kollege oder ein Familienmitglied ist, ist hier offen. Denn wir machen uns Sorgen, pflegen und kümmern uns – oder haben es zumindest getan. Angehörige*r sein ist also auch nichts, was mit dem Tod der erkrankten Person enden muss. Denn die Erlebnisse und Gefühle bleiben vielleicht trotzdem. So vertritt der BApK alle Personen, die sich dieser Gruppe zugehörig fühlen.“

Ich habe für mich noch keine abschließende Antwort auf meine Frage gefunden. Es beruhigt mich, zu wissen, dass mir die Identität als Angehörige nicht genommen wird. Trotzdem nehme ich sie mir zum Stück weit selbst. Ich habe das Gefühl, nicht mehr das Recht zur „vollwertigen Angehörigen“ zu haben. Vielleicht bin und bleibe ich eine „ehemalige Angehörige“. Schließlich habe ich über viele Jahre Erfahrungen als Angehörige gemacht. Und vielleicht kann mir diese Bezeichnung auch ein Stück weit dabei helfen, loszulassen. Von den Schuldgefühlen. Von den Unsicherheiten. Von der Last. 

Mandy, Redakteurin

Sammelt Mutmomente und lässt ihren Tag am liebsten mit einer Tasse heiße Schokolade ausklingen. Liebt es zu tanzen und über ihr Herzensthema zu schreiben: Antistigma von psychischen Erkrankungen.

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