Erklärungssuche
Wer bin ich und warum bin ich, wie ich bin? Diese Fragen stellen sich mir als Tochter eines psychisch kranken Vaters immer öfter. Ich frage mich, welche Eigenschaften tatsächlich in meinem Wesen angelegt sind und welche Charakterzüge sich aus den Erfahrungen meiner Kindheit herausgebildet haben.
Meine Lieblingsantwort wäre, dass ich stark und resilient bin. Dass meine Kindheit herausfordernd war, aber mir das alles nichts anhaben konnte. Dass die psychische Erkrankung meines Vaters nur ein Nebenschauplatz war und ich mein Leben davon unbeeinflusst leben konnte. Und ja, es stimmt, ich bin stark. Aber ich hatte auch keine andere Wahl. Die Wahrheit ist, dass das Aufwachsen mit einem psychisch kranken Vater seine Spuren hinterlassen hat. Meine Erfahrungen haben sich tief in mein emotionales Gedächtnis eingebrannt. Diese Erkenntnis ist schmerzhaft und gleichzeitig so wichtig. Denn wenn ich verstehe, warum ich bin wie ich bin, kann ich an mir arbeiten und gut für mich sorgen und liebevoll mit mir sein.
Ich bin ein Chamäleon
Lange Zeit dachte ich, es wäre eine gute Eigenschaft, dass ich so unkompliziert bin. So bescheiden, so genügsam. Doch mittlerweile hinterfrage ich das (endlich) und vergleiche mich oft mit einem Chamäleon, und das nicht unbedingt im positiven Sinne:
In welches Café wollen wir gehen? – Ich richte mich gerne nach dir.
Hast du einen bestimmten Wunsch, was wir essen? – Nein, ich möchte keine Umstände machen.
Sorry, ich komme eine halbe Stunde später! – Kein Problem, ich warte einfach.
Das sind typische Antworten aus meinem Mund. Denn ich möchte niemandem zur Last fallen, Grenzen setzen fällt mir unglaublich schwer und ich fordere keinen Raum ein. Am liebsten wäre ich unsichtbar, ganz klein, zusammengekugelt in einer Ecke, wo ich niemanden störe. Die Erde soll sich weiterdrehen und Menschen sollen ihr Leben leben, ich möchte niemandem dabei im Weg stehen.
Ich hadere ziemlich stark mit meinem Chamäleon-Dasein: Wer mag schon Ja-Sager*innen, Fähnchen im Wind, Leute ohne eigene Meinung? Die Sache ist, ich habe sehr wohl eine eigene Meinung, ich traue mich oft nur nicht, sie zu sagen oder meine Bedürfnisse zu äußern. Ich glaube, der Kernpunkt ist, dass ich es nicht aushalte, andere Leute in eine vermeintlich unkomfortable Situation zu bringen und denke, dass ich dann lieber selbst Ungemütlichkeit in Kauf nehme, und stelle meine Bedürfnisse hinten an. Das ist einfach, denn ich habe es nie anders gemacht.
Wenn ich an meine Kindheit zurückdenke, verstehe ich genau, warum ich so angepasst bin wie ein Chamäleon: Anpassung war als Kind meine Überlebensstrategie in einer Welt, in der nichts sicher schien. So oft war die Luft zuhause zum Zerreißen gespannt. Eine derart impulsive Person, wie es mein Vater ist, gleicht einem Vulkan. Es brodelt, man versucht sich in Sicherheit zu bringen, denn man weiß nie, wann der Vulkan ausbricht. So ungefähr war es auch bei uns: Die ständigen Spannungszustände meines Vaters konnten sich bei der kleinsten Belastung entladen – in Form von Impulskontrollverlust, sprich: Er wurde unberechenbar. Er wurde laut, es flogen Gegenstände durch die Luft, Sachen gingen kaputt, Türen fielen viel zu laut ins Schloss.
Auch wenn sich seine Wut nie gegen uns als Familienmitglieder richtete, fühlte ich mich machtlos und elend. Also tat ich alles, um diesen schlimmen Situationen so selten wie möglich ausgesetzt zu sein oder sie womöglich unbeabsichtigt sogar zu provozieren. Wie sollte ich in so einer Umgebung meine Bedürfnisse spüren oder gar äußern? Bei meinem Papa sagte ich nichts, um mich nicht der Gefahr auszusetzen, seine Anspannung anzukurbeln. Ich merkte ja sowieso, dass ihm jede noch so kleine Belastung zu viel war. Bei meiner Mama sagte ich auch nichts, denn ich sah, wie viel sie mit ihrem kranken Partner, ihrem Job, dem Haus und den Kindern schon alles wuppte. Wer war ich, da noch Ansprüche zu stellen, dachte ich mir wohl. Ich spürte, dass meine Eltern genug mit ihren eigenen Problemen beschäftigt waren und tat das bestmögliche, um es ihnen nicht noch schwerer zu machen. Ich galt als pflegeleichtes, zurückhaltendes, fröhliches Kind. Generell gab es nie Probleme: Ich schrieb gute Noten, verfolgte diszipliniert meinen Sport, ertrug tapfer meine Pubertät, wo ich nirgends so richtig reinzupassen schien.
Erkenntnisse
Heute bin ich ein erwachsenes Chamäleon und merke erst mit fast 30 durch meine Psychotherapie, dass ich eigene Bedürfnisse habe, sie spüren kann, mich für sie stark machen darf und muss. Ich habe meinen Platz auf dieser Welt und ich darf hier Raum einnehmen. Es droht keine Gefahr. Ich muss kein Chamäleon mehr sein. Ich darf und ich möchte auch ab und zu eher wie eine eigenwillige Katze sein. Das ist schwer zu verstehen, weil ich jahrelang etwas anderes gelernt habe. Aber ich bin es mir schuldig, dass ich mir gebe, was ich brauche. Damit ich eine glückliche Erwachsene sein kann und aus meinem Chamäleonkostüm herausschlüpfe. Und eines Tages vielleicht ein bisschen öfter so eigenwillig wie ein Stubentiger sein kann, ohne zu sehr über die Emotionen anderer Menschen nachzudenken.
Blick nach vorn
Die Frage, wer ich bin, kann ich also nicht losgelöst von den Erfahrungen meiner Kindheit betrachten. Meine Vergangenheit ist ein Teil von mir, der mich geprägt hat. Ich hätte meinem kleinen Ich so sehr eine unbeschwertere Kindheit gewünscht, aber auf meine Vergangenheit habe ich keinen Einfluss. Stattdessen bin ich es jetzt meinem Gegenwarts-Ich schuldig, ihm so viele schöne und unbeschwerte Momente wie möglich zu ermöglichen. Meine Gegenwart und Zukunft habe ich selbst in der Hand und ich muss endlich verstehen: Die Gefahr ist vorbei. Ich darf heilen. Ich darf atmen. Ich darf leben.
Ich bin Lara, 29 Jahre, Kölnerin, und wünsche mir, dass es endlich normal ist, über psychische Krisen und Erkrankungen zu sprechen, ohne dass man als Angehörige*r oder Betroffene*r Angst vor Stigmatisierung haben muss. Nur wenn wir unsere Geschichten teilen, können wir das Thema raus aus der Tabuzone holen. Dazu möchte ich beitragen, in dem ich bei Locating Your Soul mitmache.