Ende 2023 stand ich kurz vor dem Abgrund. Ich war schon lange darauf zugefahren, doch erst jetzt blieb ich stehen und hielt inne. Ich wusste es schon lange – ich hatte gelernt, die Zeichen zu erkennen. Was ich nicht gelernt hatte, war, mir Hilfe zu suchen. Ich hatte immer nur nach Hilfe für andere geschaut.
Ich hätte es doch besser wissen müssen. So viele Seminare und Kurse hatte ich schon besucht, so viele Bücher gelesen – ich sollte doch Expertin in Selbstfürsorge sein. Aber Theorie ist nicht Praxis, Wissen und Verstehen bedeuten noch lange nicht Umsetzen.
Als Partnerin eines Menschen mit depressiven Symptomen, der sich ebenfalls keine Hilfe suchte, fiel es mir schwer, darüber zu reden. Ich wollte ihn nicht in einem schlechten Licht dastehen lassen. Stattdessen versuchte ich, ihn zu einer Therapie zu bewegen. Ich informierte mich über seine Symptome und Hilfsmöglichkeiten und leitete ihm alles weiter. Irgendwann sagte er mir, dass ihm das zu viel sei.
Ich musste selbst erst in eine „Co-Depression“ fallen, selbst kaum noch Freude empfinden und kaum aus dem Bett kommen, um festzustellen, dass es so nicht weitergehen konnte. Dass ich nicht meine ganze Energie darin stecken konnte zu versuchen, ihn zu „heilen“, während ich mich selbst immer weiter verlor.
Zu dem Zeitpunkt arbeitete ich mit Jugendlichen zusammen, die in unterschiedlichem Maße auffällig waren. Ihre Geschichten berührten mich – und ließen mich nicht los. Den Abstand, den es braucht, um mit diesen jungen Menschen arbeiten und ihnen helfen zu können, konnte ich nicht mehr wahren. Mir wurde alles zu viel. Und so fiel meine Maske bei einem Mitarbeitergespräch und ich weinte. Ich fühlte mich den Anforderungen nicht mehr gewachsen. Als Sozialarbeiterin unbrauchbar.
Noch am selben Tag kontaktierte ich eine Beratungsstelle. Zwei Wochen später vereinbarte ich einen Termin bei einer Therapeutin. In 50 Minuten erzählte ich ihr dann eine Kurzfassung meines ganzen Lebens und mir wurde deutlich – ich war diejenige, die Hilfe benötigte.
Nur weil Menschen im psychosozialen Bereich arbeiten, sind sie nicht vor Krisen gefeit. Auch nicht davor, eine psychische Krankheit zu entwickeln, obwohl sie darüber besser Bescheid wissen als andere. Und gerade Menschen in Helferberufen sind meistens sehr empathisch und rücksichtsvoll anderen gegenüber und stellen sich selbst und ihre Bedürfnisse häufig zurück. Es ist nicht leicht, sich einzugestehen, dass man selbst Hilfe braucht.
Bei meinem ersten Trialog (einer Veranstaltung zum Austausch verschiedener Perspektiven auf seelische Gesundheit) fragte ich mich, in welcher Rolle ich eigentlich dort saß. Als Professionelle, als Angehörige – oder sogar als Betroffene? Im April 2024 bezeichnete sich eine Teilnehmerin als „wandelnden Trialog“. Das trifft wohl auch auf mich zu.
Ich habe keine klare Diagnose außer einer Anpassungsstörung. Als ich diese mehrfach anzweifelte, fragte meine Therapeutin mich, ob ich denn eine Diagnose benötige. Ich fühlte mich schon immer anders. Aber muss das einen Namen haben? Muss ich mich selbst in eine Schublade stecken können?
Letztendlich sind wir alle Menschen, die fühlen, lachen, lieben und leiden. Und genau das habe ich erlebt, als ich am Boden war. Denn dann wurden die Gespräche mit Freunden tiefer und auch die Verbindungen mit zuvor fremden Menschen spürbarer. Ich habe gemerkt, wie befreiend es ist, über meine Gefühle zu sprechen. Mich jemandem anzuvertrauen. Und zu merken: ich bin nicht allein.
Der Vorteil meines Wissensvorsprungs besteht darin, dass ich mich bereits vor der Krise mit meinen Ressourcen beschäftigt habe, mit meinen eigenen Stärken und den Schätzen in meinem Umfeld. Das betonte meine Therapeutin auch. Ich weiß mir zu helfen, ich weiß, was mir guttut.
Das letzte Jahr begann zwar mit einem tiefen Tal und einem großen Verlust. Doch durch die Entscheidung, mir professionelle Hilfe zu suchen, habe ich mich mehr und mehr selbst in den Mittelpunkt gestellt. Und ich bin mir so dankbar dafür. Ich habe das Steuer wieder in die Hand genommen, anstatt mich vom Sturm um mich herum in den Abgrund ziehen zu lassen. Ich wurde aktiv, für meine Gesundheit und meine Träume. Ich habe angefangen, meine Texte zu veröffentlichen, habe einen neuen Job begonnen, eigene Lieder geschrieben und bin das erste Mal als Sängerin aufgetreten.
Am Ende des Jahres konnte ich kaum glauben, was alles passiert war. Aber nicht einfach so, sondern weil ich mich bewegt habe. Weil ich aus der Erstarrung aufgewacht bin und mich vom Abgrund entfernt habe, um den Weg hinauf auf den Berg zu gehen. Und weil ich so wunderbare Menschen in meinem Leben habe, die mich dabei begleiten und mir in Zeiten der Dunkelheit ihr Licht spenden, wenn ich gerade den Akku von meinem eigenen laden muss.
Manchmal bin ich auch jetzt noch überfordert. Dann nehme ich mir die Zeit und frage mich, was ich brauche. Meistens hilft es, etwas wegzulassen. Mein Notizbuch oder meine Gitarre zur Hand zu nehmen, zu schreiben und zu singen. Oder mit jemandem zu reden oder spazieren zu gehen in meiner Lieblingsstadt. Herauszugehen fällt mir an manchen Tagen immer noch schwer. Aber ich akzeptiere dann auch mein Bedürfnis nach Ruhe und Erholung. Denn lange Zeit habe ich das übergangen.
Im Rahmen einer Präventionsmaßnahme der Rentenversicherung nutzte eine Psychologin das Wort „Schwermut“ für meine Symptome. Ich habe es in meinen Wortschatz aufgenommen und daraus ein kleines Gedicht gemacht, was ich zum Abschluss dieses Beitrags mit euch teilen möchte:
Yasmin KalaydoskopIch mag das Wort SCHWERMUT
Es beschreibt die Situation gut
Denn der MUT steckt darin
So erkenne ich den Sinn
P.S.: Sucht euch rechtzeitig Hilfe. Es gibt so viele Möglichkeiten, sich jemandem anzuvertrauen und die eigene Last zu teilen. Hilfe anzunehmen, ist eine Stärke. Und sich um sich selbst zu kümmern, ist notwendig, um auch für andere da sein zu können.
* Titel inspiriert von Wolfgang Schmidbauer: “Hilflose Helfer. Über die seelische Problematik der helfenden Berufe” – eine Empfehlung für alle, die sich mit dem sogenannten „Helfersyndrom“ auseinandersetzen möchten

Ich fühle, also bin ich.
Als Angehörige von Menschen mit psychischer Belastung möchte ich Mut machen, sich zu öffnen. Ich übe es selbst seit einiger Zeit. Meine Gefühle, Bedürfnisse und Wunden zu zeigen, schafft echte Verbundenheit.
Gern verbinde ich meine Leidenschaft fürs Schreiben mit meinem persönlichen und beruflichen Interesse an seelischer Gesundheit und Selbstfürsorge, um diese Themen mehr in den Fokus zu rücken. Mir ist es wichtig, dass sich die Menschen gesehen und verstanden fühlen.
Während ich durch das Schreiben Ruhe finde, gibt Musik mir Energie und Motivation. Beides hilft mir dabei loszulassen und den kleinen und großen Herausforderungen im Leben zu begegnen.

