Zwei Fragen, die ich auch heute manchmal nicht gut beantworten kann. Aber ich weiß heute zumindest, wieso mir das Beantworten dieser Fragen so schwerfällt.
Meine Jugend war geprägt von Anpassung. Ich versuchte dauerhaft so zu sein, wie meine Mitmenschen mich haben wollten. Dabei versuchte ich, so wenig wie möglich aufzufallen.
In meiner Familie und zuhause wurde wenig über die Erkrankung meiner Mutter gesprochen. Auch in meinem Umfeld, mit Freundinnen, sprach ich nicht über die Erkrankung meiner Mutter. Wie auch, wenn mir die Worte und das Verständnis darüber fehlten, was mit meiner Mutter eigentlich los war.
Ich lernte damals, mich zurückzuhalten. Mit meinen Meinungen und Gedanken. Mit meinen Gefühlen und Ängsten. Das spiegelte sich in Freundschaften und Beziehungen wieder. Ich war „einfach“ und „unkompliziert“, weil ich selten anderer Meinung war.
Während meine Freundinnen in der Pubertät überlegten, ob sie später eine Ausbildung machen, oder doch lieber studieren wollten, ihren Kleidungsstil entwickelten und herausfanden, was sie sich in den nächsten Jahren für ihr Leben wünschten, dachte ich selten an mich selbst und meine nahe Zukunft.
Wenn meine Mutter in der Psychiatrie war, dann übernahm ich den Haushalt, kümmerte mich um meinen Bruder und kochte Essen. Ich übernahm die Rolle meiner Mutter und es war normal für mich. Eine lange Zeit redete ich mir ein, dass ich diese Rolle gerne übernahm. Diese Rolle gab mir das Gefühl, gebraucht zu werden und wichtig zu sein, wie ich später in jahrelanger Therapie herausfinden sollte.
Später, als ich mit 19 Jahren auszog, fiel plötzlich ein großer Teil meines Lebensinhalts weg. Plötzlich war ich nicht mehr verantwortlich für meinen Bruder, hatte mich nur noch um eine kleine Wohnung zu kümmern und ich bekam nicht mehr durchgehend mit, wie es meiner Mutter ging. Plötzlich ging es um mich. Zu diesem Zeitpunkt bemerkte ich, dass ich keine Ahnung hatte, wer ich war und was meine Vorstellungen, Ideen und Wünsche für mein Leben sind. Ich war lange Zeit der Meinung, dass die Rolle, in die ich geschlüpft war, nämlich die Aufgaben einer erwachsenen Person zu übernehmen, etwas Positives war. Natürlich habe ich auch Positives daraus mitgenommen. Aber genauso fehlten mir ganz viele Erfahrungen, die Teenager üblicherweise machen.
Heute sind mir Zurückhaltung, das Unterdrücken von Meinungen und Gedanken erhalten geblieben. Aus Angst, dass Menschen in meinem Umfeld meine Meinung nicht interessiert oder ich mit Kritik konfrontiert werde, versuche ich noch immer, Gedanken für mich zu behalten und neige dazu, mich anzupassen.
Heute weiß ich aber, dass die Erfahrungen in meiner Jugend mit meiner psychisch erkrankten Mutter mich geprägt haben bei der Frage danach, wer ich bin und wer ich sein darf.
Und auch, wenn ich noch nicht gut beantworten kann, wer ich bin, so weiß ich zumindest, was und wer ich alles (sein) darf:
Ich darf über meine Gedanken reden. Ich darf in manchen Momenten still, in manchen Laut sein. Ich darf über die Erfahrungen als Tochter einer psychisch erkrankten Mutter sprechen.
Ich darf noch so viel mehr sein. Und vieles muss ich noch herausfinden. Ich denke, dass das Finden der eigenen Identität ein stetiger Wandel und nicht ab einem bestimmten Punkt abgeschlossen ist.
Der Artikel spricht mir aus dem Herzen. Auch ich bin Meisterin der Anpassung. Als Älteste von 3 Geschwistern übernahm ich die Rolle meiner Mutter schon viel zu früh. Mit 9 konnte ich waschen, kochen, die Hemden meines Vaters bügeln und meine Geschwister versorgen.
Über mich und meine Gefühle dachte ich nie nach, erst mit der Geburt meiner Kinder kam der Prozess in Gang, denn die Rolle der Mutter passte nun wirklich, aber ich konnte noch so viel mehr…