Selbstverletzung und ihre Folgen sind ein schwieriges Thema, für Betroffene sowie Angehörige. Die einen wollen helfen, wissen aber nicht wie. Die anderen wollen aufhören, können aber nicht. Dabei bleibt abseits von Narben meist nicht viel zurück. Diese Narben sind jedoch der sichtbarste Teil von psychischen Erkrankung.
In diesem Text berichtet eine Betroffene von ihren Narben, ihren Gefühlen, ihrer Geschichte und bietet einen positiven Zugang dazu an.
Die Fragen: Wie is’n das passiert? Was hast du da gemacht? Wer hat dir das angetan? Wow, das sieht ja brutal aus! Die Antworten: Ach, das Leben. Ich wurde von einem Tiger angegriffen. Das war ich selbst. Ja, aber es wird besser, alles gut. Die Wahrheit: Ich habe mehrfach eine Rasierklinge durch meine Haut gezogen. Freiwillig und absichtlich. Und es hat mir gutgetan. Aber dann auch wieder nicht.
Menschen, die wie ich sich aufgrund ihrer Erkrankung selbst verletzen, wissen wahrscheinlich mehr über physischen und psychischen Schmerz zu erzählen als die meisten anderen. Und wie auch andere bin ich allen um mich herum ein Rätsel. Warum tue ich das? Ist das nicht ein bisschen dramatisch? Es macht doch gar nichts besser. Es ist doch alles gar nicht so schlimm. Es macht so hässliche Narben. Dabei bist du doch so ein hübsches Mädchen. (Argh!) Warum tue ich es also? Um ein Gegengewicht zu schaffen. Wenn man gerade dabei ist, an seinen Emotionen zu ersticken, in Panik zu versinken, von Angst paralysiert zu werden, in seinem Kopf zu verschwinden, hilft manchen eine Backpfeife. Ein scharfer Schmerz, der bis in jeden Knochen durchdringt. Aufwachen, Kontrolle ergreifen, Ablenken, Entspannen. Es ist wichtig zu verstehen, dass es innerlich noch viel schlimmer aussieht. In diesen Momenten nehme ich die Narben gerne in Kauf, den Schmerz, das Blut. Nur um diesen Qualen zu entkommen. Und auch im Nachhinein kann ich sagen: Das war es wert.
Uns wird beigebracht, dass sich selbst zu verletzen schwach und krank ist. Es geistert in manchen Köpfen und Gesprächsrunden der Gedanke rum, dass solche Menschen eigentlich Masochisten sind, dass es sie anmacht. Viele glauben, dass es nur etwas ist, was melodramatische Teenager aus dysfunktionalen Familien tun. Deshalb sollen wir unsere Narben verstecken. Wir haben Angst vor dem Stigma, Angst vor den invasiven Fragen, die einen an die schlimmsten Momente des eigenen Lebens erinnern. An dieser Stelle möchte ich es nochmal ganz deutlich machen: Menschen, die sich selbst verletzen sind keine Masochisten (allerdings: don’t kink shame!). Es muss wirklich viel Schmerzhaftes innerlich und/oder äußerlich passiert sein, damit man zu einem solchen Mittel greift. Und ja, auch Erwachsene verletzen sich selbst. Auch Kinder aus glücklichen Familien tun es. Auch schöne Menschen, kluge Menschen, Menschen mit viel Geld und schönen Haaren.
Ich zeige meine Narben nicht gerne und nicht vielen. Meine Kolleg_innen haben sie noch nie gesehen. Viele meiner Freund_innen kennen sie nicht, fast niemand aus meiner Familie weiß davon. Jedes Mal, wenn sie jemand sieht, kommt ein kurzer Schock, leichte Betretenheit. Schweigen. Ich zeige sie nicht gerne, weil ich manchmal nicht darüber reden kann. Weil es manchmal weh tut. Weil ich manchen nicht vertraue. Nicht jede Narbe die man sieht muss besprochen werden. Aber eins ist mir wichtig: Ich schäme mich nicht für sie. Ich schäme mich nicht dafür, „so etwas“ getan zu haben. In diesen Momenten war es wichtig und hilfreich. Und auch wenn ich ab und zu mal peinliche oder schmerzhafte Gespräche führen muss, und manchmal ignorante Kommentare dazu hören muss, sind sie mir wichtig. Genau wie bei tapferen Kriegern in alten Gesellschaften zeigen meine Narben, dass ich aus einem Kampf siegreich davongegangen bin. Sie sind ein ewiger Beweis, dass die Dinge in meinem Kopf echt sind. Das mein Leid real ist. Sie erinnern mich auch immer wieder daran, auf mich aufzupassen. Sanft mit mir zu sein und eine gute Barriere gegen die Welt zu halten. Nicht dieselben Fehler zu machen. Narben heilen nicht von einem Tag zum anderen. Indem sie ab und an weh tun, halten sie mich auch davon ab, es wieder zu tun. Es hat einen besonderen heilsamen Effekt zu sehen, wie die Wunden heilen, wie aus ihnen Narben werden, die nach und nach fast unsichtbar werden. So wie mein Körper heilen kann, kann auch meine Seele heilen. Es braucht Zeit und ein wenig Zuwendung, aber es wird besser. Narben tragen nicht nur all die schmerzhaften und tragischen Geschichten eines Lebens in sich. Wenn man sie akzeptiert sind sie auch Hoffnung.
Unsere Narben sagen so viel mehr über uns aus als unser Beruf, unsere Freunde, unsere Kleider. Auch in nicht selbst beigefügten Narben liegt eine tiefe Wahrheit über unsere Persönlichkeit, unser Leben. Wir sind Menschen mit Körpern und jede Verletzung dieser Körper hinterlässt Spuren auf unserer Seele. Warum sollte es dann nicht auch anderes herum sein?
Falls Du dich in diesem Artikel wiederfinden kannst, hier ist eine Übersicht zu Anlaufstellen und Hilfsangeboten! Die TelefonSeelsorge erreicht ihr unter: 0800.1110111
Außerdem möchte wir hier auf die Idee eines sogenannten Notfallkoffers hinweisen:
- Der Selbsthilfekoffer für Notfälle soll helfen, möglichst schnell wachsende Anspannung zu vermindern, damit es nicht zu sozial störendem oder gar selbstschädigendem Verhalten kommt.
- Hier eine Anleitung wie ihr euch einen eigenen Notfallkoffer zusammenstellen könnt.
- Die Borderline Selbsthilfegruppe Fulda stellt hier einige Skills zur Beruhigung vor.
Weitere Hilfsangebote und Anlaufstellen für Angehörige:
- Weitere Informationen für Angehörige und Betroffene
- Selbsthilfe-Netzwerk für Angehörige (z. B. Freunde, Eltern oder Geschwister) von Menschen, die selbstverletzendes Verhalten zeigen.