Tschüss Verantwortung, hallo Schuld?!

Ein blauschwarzer, diffuser Hintergrund. Davor zwei blaue runde Flächen mit dem Artikeltitel und die Grafik einer jungen Frau, die traurig ist und die Beine zum Körper ranzieht. locating your soul

Tschüss Verantwortung, hallo Schuld?!

Schnell erwachsen werden

Verantwortung übernehmen: Das gehörte für mich als Kind schon früh dazu. Wo die Ressourcen meines psychisch kranken Vaters endeten, entstand eine Lücke, wie ein Vakuum, die mich unsichtbar an- und in die Verantwortung zog. Mit Geld haushalten, Tagesabläufe planen, für ein warmes Essen sorgen: Wenn ich mit meiner Schwester Zeit mit meinem Vater verbrachte, waren all diese Dinge, um die sich Eltern normalerweise kümmern, nicht selbstverständlich gegeben. Ich fühlte mich verantwortlich und alle waren daran gewöhnt, dass das System funktioniert. Parentifizierung nennt man das, wenn die sozialen Rollen zwischen Eltern und Kind umgekehrt sind. Als Erwachsene lerne ich nun in meiner Therapie, für mich selbst zu sorgen und Grenzen zu setzen. Doch das rationale Verständnis über diese Notwendigkeit ist die eine Sache. Die Umsetzung in der Praxis ist ein mentaler Kraftakt, der noch lange nicht immer gelingt, wie mir die folgende Situation wieder vor Augen führte. 

Ich will, dass es dir gut geht

Erst kürzlich hat mich mein Vater um Geld gebeten, um die Werkstattkosten an seinem Auto bezahlen zu können. Ein gesunder Umgang mit Geld fiel ihm schon immer schwer, das kenne ich nicht anders. Aber es war das erste Mal seit sehr vielen Jahren, dass er mich um Geld bat, und so nahm ich mir eine Nacht Bedenkzeit und stimmte schließlich zu. Ich fügte jedoch direkt an, dass es eine einmalige Sache ist und ich ihm zukünftig kein Geld mehr leihen möchte. Mal wieder war ich – „das Kind“ – es, das Regeln aufstellt und Grenzen festlegt. Sollte es nicht eigentlich andersherum sein?

Ich bekam die Summe verspätet zurück, aber diesen Umstand hatte ich sowieso schon erwartet und wurde somit nicht enttäuscht. Doch wenige Wochen später fragte er mich erneut nach Geld – diesmal blieb mir keine Zeit mehr, um darüber nachzudenken, denn er offenbarte mir, dass er Mahnungen für seine Stromrechnungen erhalten hat und die Stadtwerke drohen ihm den Strom abzustellen. Bildhaft führte er mir vor Augen, wie fatal es wäre, wenn bspw. der Kühlschrank ausfallen würde. Und natürlich versicherte er mir erneut, dass es diesmal seine letzte Bitte um Geld wäre. 

Es war eine schlimme Vorstellung für mich, dass er alleine in der dunklen Wohnung sitzt, das wollte ich nun wirklich nicht. Aber gleichzeitig erinnerte ich mich auch an meine Haltung dazu: Ich wollte ihm kein Geld leihen. Es war ein Dilemma, in mir kämpfte mein empathischer, helfender, harmoniebedürftiger Anteil und mein Therapie-Ich, dass meine eigenen Bedürfnisse und Grenzen achten will. 

Ich will, dass es mir gut geht

Schlussendlich stimmte ich zu. Ich hatte keine Wahl, ich fühlte mich moralisch und zeitlich unter Druck gesetzt. Ich machte mir keinen Vorwurf, aber ich war verärgert, dass ich schon wieder in so eine Situation gebracht wurde. Dass ich überhaupt nochmal um Geld gebeten wurde, obwohl ich schon gesagt hatte, dass ich kein Geld mehr verleihe. 

„Verärgert sein“, für mich das Maximum der negativen Gefühle, die ich mir überhaupt zugestehe. Gefühle wie Wut, Enttäuschung oder Traurigsein – das habe ich vielleicht mal gefühlt, aber niemals zum Ausdruck gebracht. Es gab unzählige Situationen, wo all diese Gefühle angebracht gewesen wären. Doch ich wollte nie, dass mein Vater sich dann schlecht fühlt. Schließlich macht er das alles nicht mit Absicht. 

Heute weiß ich, dass ich mit diesem Unterdrücken meiner Gefühle Verantwortung dafür übernehme, wie es meinem Papa geht. Aber er ist eine erwachsene, mündige Person und muss auch mit seiner psychischen Erkrankung Verantwortung für sein Handeln übernehmen. 

Mein Vater hatte mir das Geld nach Wochen noch immer nicht zurück überwiesen und diesmal brachte ich meine Emotionen zum Ausdruck. Ich hatte Sorge, dass unser Verhältnis dann schlecht wird, weil ich meine Gefühle nicht im Griff habe, mich impulsiv äußere… schon wieder kamen die alten Denkmuster hoch… wenn ich doch nur eine Nacht drüber schliefe, sei morgen der Ärger sicher verraucht. Und mein Papa muss nicht mit seinen von mir ausgelösten schlechten Gefühlen alleine sein. Mein ganzes Leben kontrollierte ich mich auf diese Weise, damit es ihm gut geht. Doch diesmal sagte ich ihm, wie es mir ging. Das fühlte sich gut und gleichzeitig ungewohnt an. Aber ich muss es immer wieder bewusst einüben. 

Was bin ich mir schuldig?

Wenn er mich nochmal nach Geld fragt, werde ich Nein sagen. Und ich werde mich schuldig fühlen. Ich werde mich wie die weltschlechteste Tochter fühlen. Schuldig, dass ich das Geld habe und es ihm nicht gebe. Schuldig, weil ich gesund bin und meinen kranken Papa “im Stich” lasse. Bin ich unmenschlich? Bin ich verständnislos? Bin ich unloyal? Bin ich ohne Mitgefühl? Vielleicht ist es an der Zeit, dass ich all diese Fragen mal auf mich selbst beziehen sollte. Wie wäre es, wenn ich mal zu mir selbst und meinen Emotionen stehe, dass ich Mitgefühl mit mir habe, dass ich für mich selbst sorge, ich loyal zu mir selber bin?

Verrückte Idee. Aber vielleicht keine schlechte.

Porträt von Redakteurin Lara in schwarz weiß

Ich bin Lara, 29 Jahre, Kölnerin, und wünsche mir, dass es endlich normal ist, über psychische Krisen und Erkrankungen zu sprechen, ohne dass man als Angehörige*r oder Betroffene*r Angst vor Stigmatisierung haben muss. Nur wenn wir unsere Geschichten teilen, können wir das Thema raus aus der Tabuzone holen. Dazu möchte ich beitragen, in dem ich bei Locating Your Soul mitmache.

3 Kommentare zu „Tschüss Verantwortung, hallo Schuld?!“

  1. Liebe Lara,

    Dein Artikel hat mich sehr bewegt.
    Sehr reflektiert, sachlich aber auch emotional und authentisch beschreibst du ein komplexes seelisches Dilemma, in dem sich bestimmt so einige deiner Leser-wenn vielleicht auch in etwas individuell anderer Form- wiederfinden oder schon mal wiedergefunden haben.

    Ich finde es beeindruckend, wie du auf unterschiedliche Sichtweisen eingegangen und diese ehrlich und offen hinterfragt hast.

    Ich habe dadurch meine eigenen Denkmuster und Sichtweisen hinterfragt und dadurch Mut und Antrieb gefunden, auch in Zukunft immer wieder mehr in mich selbst hineinzufühlen und zu reflektieren.

    Respekt für diesen tollen Artikel!
    Ich wünsche mir, dass er viele Leser erreicht!
    Mach weiter so!:-)

  2. Danke fürs Teilen. Beziehungen sind immer komplex, und die zwischen Eltern und Kindern sind normalerweise noch komplizierter. Die Beziehungen, die wir als Kinder aufbauen, führen oft dazu, dass wir in alte Habits und Denkmuster zurückfallen, selbst wenn sich die Dynamik inzwischen verändert hat. Es ist unglaublich schwer, die Denk- und Verhaltensweisen abzulegen, die man über Jahrzehnte eingeübt hat, und es erfordert viel bewusste Anstrengung…viel Glück dabei!

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