Im Tal der Tränen
Es war im letzten Winter, als ich einfach nicht mehr konnte. Wie ein dunkler, schwerer Vorhang hatte sich eine diffuse Mischung aus Angst und Depression über mich und meinen Alltag gelegt. Tagsüber wurde ich von lähmenden Ängsten zerfressen, abends zuhause stellte sich keine Erleichterung ein; stattdessen lasteten die Herausforderungen des Alltags wie tonnenschwere Steine auf meinen schmalen Schultern. So schlurfte ich wochenlang wie ein Häufchen Elend durch meinen Alltag. In Zeitlupe setzte ich langsam einen Fuß vor den anderen. Kam ich überhaupt von der Stelle? Trotz Pattex unter den Schuhsohlen und einem großen Angstkloß im Bauch schlich ich vor mich hin, ziellos irrte ich durch den Tag und ertrug die Schwere. Ich fühlte nichts und gleichzeitig so viel, ich erkannte mich selbst kaum wieder.
Ich sehe die Sonnenstrahlen auf meiner Haut, aber ich spüre sie nicht. Ich lache über deinen Witz, aber ich fühle nichts.
Mein Endgegner war die stets lieb gemeinte und sicher auch ehrlich interessierte Frage meines sozialen Umfelds: „Wie geht’s?“. Ich überlegte schon im Vorhinein, was ich darauf antworten soll und wusste es auch nach langem Grübeln nicht. Für ehrliche Antworten war kein Raum. Also antwortete ich so, dass es sich wie eine unglaubwürdige Lüge anfühlte oder stellte einfach hastig eine Gegenfrage. Als auch das nicht mehr ging, war mir alles egal. Egal, was andere dachten. Und so liefen die Tränen in der Bahn, beim Treffen mit Freund*innen, an Weihnachten. Es brauchte keinen Anlass, sie kamen unangekündigt und liefen kalt über mein Gesicht mit leerer Miene. In meiner Welt hatte jemand den Lichtschalter ausgeknipst und meine Kraft reichte nicht, um ihn umzulegen.
Erkenntnis
Doch als ich mich eines Tages fragte, ob und wann diese Phase denn mal vorbei sein würde, wann es endlich mal wieder besser werden würde, hatte mein vernebeltes und von Beklemmung befallene Gehirn einen Geistesblitz. Vielleicht muss ich mich nicht meinem Schicksal ergeben. Vielleicht ist dieser Zustand nicht mein neues Normal. Vielleicht muss ich im Leben nicht alles alleine schaffen. Ich darf mir Hilfe suchen. Ich brauche psychotherapeutische Hilfe.
Diese Erkenntnis war wichtig und dennoch nicht die Erlösung. Ich musste mich mit dem gesellschaftlich untragbaren Umstand befassen, dass es nicht genug Therapieplätze gibt und dass man i. d. R. monatelang auf einen freien Platz warten muss – zumindest wenn man gesetzlich versichert ist. Ich konnte mir nicht vorstellen, erst in einem halben Jahr Hilfe zu bekommen. Und ich hatte Angst, monatelang kämpfen zu müssen. Wie soll man diese Kraft in einer Phase aufbringen, wo man nicht mal Ressourcen hat, um den Müll rauszubringen? Aber irgendwo musste ich anfangen, wenn es irgendwann mal besser werden sollte.
Schritt für Schritt
Meine erste Anlaufstelle war der Sozialpsychiatrische Dienst meines Stadtteils, wo man niedrigschwellig Hilfe und Beratung in Krisensituationen erhält. Bei meinem Termin weinte ich minutenlang. Ich konnte kaum sprechen. Es war so unendlich erleichternd, dass ich den ersten Schritt gegangen war und mir jemand zuhörte, der mir helfen konnte. Es war so belastend, die Fassade im Alltag halbwegs aufrechtzuerhalten, dass es nun so befreiend war, einfach offenlegen zu können, wie es mir wirklich geht. Der Sozialarbeiter und der Psychiater hörten mir aufmerksam zu und nahmen mich ernst, das fühlte sich gut an. Ich bekam eine Liste mit Therapeut*innen in meiner Umgebung – ein erster Anhaltspunkt für meine Suche. Ich war einen Schritt weitergekommen und doch ganz am Anfang. Als strukturliebender Mensch gehe ich nichts ohne Plan an. Ich wollte auf jeden Fall mehrgleisig fahren, Verschiedenes ausprobieren und auf das Schicksal vertrauen, dass schon etwas klappen wird.
Es war ein gutes Gefühl, mich auf den Weg gemacht zu haben. Mir zuzugestehen, dass ich mir Hilfe suchen darf und den Anspruch haben darf, dass es mir besser gehen soll. Ich hatte das Gefühl, wieder ein wenig die Kontrolle über mein Leben zurück zu haben.
Krankschreibung?
Der Vollständigkeit halber machte ich einen Termin beim Hausarzt aus. Auch ihm heulte ich minutenlang die Ohren voll, bevor er mir vorschlug, „mich ein paar Wochen aus dem Verkehr zu ziehen und krankzuschreiben“. Ich stutzte. Wochenlang hatte ich diese Option vor Augen und hatte mir selber gesagt, wenn es nicht mehr geht, geht es nicht mehr. Dann melde ich mich krank. Aber gleichzeitig hat es mir auch Angst gemacht. Angst, dass ich dadurch meine Ängste gewinnen lasse und nun vermeide. Angst, nach einer Krankschreibung nicht mehr den Weg zurück zu schaffen. Angst vor Fragen. Als mir mein Hausarzt explizit die Krankschreibung anbot, lehnte ich ab. Ich brauchte die Arbeit, mein 9-to-5-Job gab mir eine Tagesstruktur: Zwischenmenschlicher Kontakt war zwar auf der einen Seite belastend, weil ich das Gefühl hatte, nicht ich selber sein zu können (aka weil ich nicht hemmungslos weinen konnte), aber auf der anderen Seite konnte ich mir auch nicht vorstellen, den ganzen Tag nur völlig leer und traurig alleine zuhause zu sein. Wer weiß, wie lange das dann so wäre. Stattdessen fragte ich meinen Hausarzt nach Tipps für einen freien Therapieplatz. Er bot mir an, sich umzuhören.
Hilfe
Nun ging es ans Eingemachte: Meine beste Freundin beglückwünschte mich zu meinem Plan, mir einen Therapieplatz zu suchen. Sie signalisierte mir von Anfang an, dass sie den Weg mit mir zusammen gehen würde und wenn ich das möchte, sie auch für mich die Anrufe bei den Praxen übernehmen kann. Dieses Angebot war unendlich wertvoll für mich, weil ich wusste, dass ich auf sie zählen kann, wenn ich alleine doch nicht die Kraft hätte. Sie legte für mich ein digitales, geteiltes Tabellendokument an. Wir teilten uns die Adressen auf und trugen die Namen und Telefonnummern ein. Wir recherchierten sie im Internet und ergänzten Anmerkungen und die telefonischen Sprechstundenzeiten. Eine gute Aufgabe für zwischendurch, ich musste mit niemandem sprechen und es fühlte sich nach einem Fahrplan an.
Das Anrufen wollte ich erstmal selber versuchen und schauen, was ich schaffe. Ich sortierte mir die Praxen grob nach Tagen und schaute, bei welchen ich noch vor der Arbeit anrufen konnte und welche ich in der Mittagspause oder im Home Office erreichen konnte. Einige Praxen hatten ihre telefonischen Sprechstunden früh morgens, vermutlich vor der ersten Therapiestunde. Aber die Angst vorm Telefonieren, die Angst vor Zurückweisung in Kombination mit Extrem-Schlecht-aus-dem-Bett-Kommen waren härter als gedacht. Mehrmals nahm ich es mir fest vor, aber verkroch mich dann doch bis zur letzten Sekunde unter meiner Decke und schaffte es nur gerade so pünktlich ins Büro. Mist. Das konnte doch nicht so schwer sein. Ich schaffte es alleine nicht. Ich erzählte meiner Mutter von meinem Problem und bat sie, mich morgens um 7 Uhr anzurufen und so lange mit mir zu telefonieren, bis ich ihr glaubhaft vermittelte, halbwegs wach zu sein.
Am Telefon
Ich setzte mich langsam auf. Mit einer Mischung aus bleierner Müdigkeit und Angst wählte ich die Nummer der Praxis. Was würde ich wohl gefragt werden? Müsste ich meine ganze Geschichte auspacken? Was, wenn es nicht dramatisch genug klingt? Was, wenn ich anfange zu weinen? Ich beruhigte mich: Wenn ich schon zum Hörer greife und um 7 Uhr morgens da anrufe, kann man sich ja wohl ausmalen, dass es dringlich ist. Meine Telefonversuche gingen schleppend voran und primär musste ich mich mit abwimmelnden Bandansagen begnügen. Ich lies mich auf wenige Wartelisten setzen. Schrieb Emails, auf die ich Absagen oder gar keine Antwort erhielt.
Aber bei einem Anruf kurz vor Weihnachten hatte ich tatsächlich eine Person am anderen Ende der Leitung. Die Therapeutin klang sehr nett. Auch sie hatte keinen freien Platz, aber bot mir drei Sprechstunden-Termine an, die akut erste Abhilfe schaffen können und vielleicht schon herauskristallisieren, welche Therapieform passt. Wir machten einen Termin für den Tag vor Weihnachten aus. Ich bedankte mich, legte auf und brach in Tränen aus. Da war jemand, der mir zuhören wollte! Diese Sprechstunde war so wichtig für mich – auch wenn es sich blöd anfühlte, weil ich mich jemandem öffnete, der mir keinen festen Therapieplatz anbieten kann. Aber ich griff nach jedem Strohhalm und ging mit einem Gefühlschaos aus der ersten Stunde. Weihnachten und Silvester verbrachte ich primär weinend und wandelte wie eine leere Hülle durch die freien Tage.
Neues Jahr, neues Glück
Anfang Januar nahm ich mir den Tipp meiner Schwester zu Herzen, auf der Website www.therapie.de vom Verband Pro Psychotherapie e.V. zu schauen. Dort kann man verschiedene Suchfilter einstellen, u. a. den Suchradius, die gewünschte Therapieform, die Versicherungsart und nach freien Plätzen. Ich suchte nach freien Plätzen und entdeckte einen Eintrag, der erst zu Anfang Januar geändert wurde. Vermutlich hatte die Therapeutin den Wohnort gewechselt oder frisch ihre Praxis eröffnet. Man konnte sie (zu meinem Glück) nur per Mail kontaktieren, was ich tat. Abends bekam ich eine Mail – sie hatte geantwortet. Sie kam aus der Elternzeit zurück, füllte alle ihre Plätze neu auf und hatte noch einen einzigen frei. Ich konnte mein Glück nicht fassen und antwortete ihr prompt, dass ich den Platz annahm und weinte vor Freude und Erleichterung, es fiel eine riesige Last von meinen Schultern. Alles würde gut werden. Ich war nicht mehr allein. Ich hatte Hilfe. Ich hatte eine Perspektive. Ich musste nur einfach jede Woche zur Therapie gehen und geduldig sein. Und das war ich.
Unser Kennenlerntermin lief gut und ich fühlte mich wohl. Ich hatte meinen Platz! Trotz meiner Ängste überwand ich mich und teilte meiner Chefin mit, dass ich ab sofort mittwochs immer einen festen privaten Termin habe. Es war überhaupt kein Problem. Seit Januar gehe ich jeden Mittwoch zur Therapie und es war meine Rettung. Ich brauchte Zeit, um mich darauf einzulassen, es brauchte Zeit, dass es mir besser ging. Aber ich ging und gehe meinen Weg und setze einen Fuß vor den anderen.
Gemeinsam
Wenn du diesen Artikel liest und selber überlegst, dir einen Therapieplatz zu suchen, dann ist das dein Zeichen, es zu tun. Du musst nicht alles alleine schaffen, du darfst deine Lieben um Hilfe bitten. Wenn du das liest und jemanden in deinem Umfeld hast, der Hilfe braucht, dann biete konkrete Hilfe an, nimm deine Lieben an die Hand und sag, „Komm, wir schaffen das zusammen!“.

Ich bin Lara, 30 Jahre, Kölnerin, und wünsche mir, dass es endlich normal ist, über psychische Krisen und Erkrankungen zu sprechen, ohne dass man als Angehörige*r oder Betroffene*r Angst vor Stigmatisierung haben muss. Nur wenn wir unsere Geschichten teilen, können wir das Thema raus aus der Tabuzone holen. Dazu möchte ich beitragen, in dem ich bei Locating Your Soul mitmache.
Hallo Laura,
toll dass du deinen Lesern Mut machst ihre eigenen Probleme und Bedürfnisse ernst zu nehmen und sich auch um eine Therapie selbst zu kümmern. Dir noch viele positive Erfahrungen auf deinem weitern Weg, LG Ralph