Sich selbst fremd sein

Eine Person hält sich die Hände vor die Augen und durch die Hände hindurch kann man Augen, Mund und Nase sehen. Zudem sind Wassertropfen auf der Oberfläche. Unten steht vor fliederfarbenem Grund der Titel des Beitrags "Sich selbst fremd sein".

Triggerwarnung: Misshandlung, Trauma

Identität ist alles das, was ich bin oder zumindest, was ich mir zuschreibe. Mit Kinderaugen muss man die Welt noch erkunden und braucht Hilfe dabei, denn die Welt ist laut, bunt und voll von anderen Menschen. Wer keine Begleitung als Kind hat, muss sich allein durch dieses Labyrinth kämpfen. Als Betroffene der Dissoziativen Identitätsstörung habe ich ungewollt einen eigenen Weg finden müssen, denn ich konnte mich nur auf mich und meine Kreativität verlassen. Eine DIS ist eine gespaltene Persönlichkeit, das heißt, ich bin in viele Teile aufgespalten, wie Scherben von einem Spiegel. Für verschiedene Traumata entstanden aus Schutz weitere Teile von mir selbst. Ich wurde mir selbst fremd, doch diese Fremden retteten mich. Heute sind wir alle Teile einer „WG“, wie ich sie nenne. Chris, Vicky, Alexander, Joker, Luzifer, die Kleine, John, Michael und andere leben in dieser WG. Jeder Teil hat ein eigenes Zimmer, eigene Erinnerungen, eigene Interessen und Arten, mit anderen Menschen zu kommunizieren. Es gibt die, die Rollen haben, also Aufgaben, damit mein Leben funktionieren kann, wenn es mir gerade nicht gut geht. Wenn ich durch einen Trigger in ein Flashback gerate und die Umwelt nicht mehr richtig wahrnehmen kann, erledigt Alexander die geplanten Dinge wie einkaufen, sich mit einer Freundin beim Treffen unterhalten, von A nach B laufen oder fahren. Sogar Autofahren kann ich in diesen Zuständen. Der einzige Unterschied ist, dass ich gefahren bin, ohne es währenddessen zu merken und ab einem bestimmten Teil der Strecke wird alles schwarz. Es ist, als würde ich plötzlich einschlafen, aber anstatt einzuschlafen greift dann ein anderer Teil meiner WG ein und macht weiter, wenn ich nicht weitermachen kann. 

Die WG ist ein Schutzmechanismus, damit ich nicht zu sehr mit alten Traumata konfrontiert werde und auf diese Weise nicht in schwere Depressionen oder suizidale Absichten abstürze. Natürlich kann die WG nicht alles abfangen und es gibt trotzdem Wochen, in denen ich ziemlich depressiv bin, nicht schlafen kann und total nervös oder stark gereizt bin. Dann vergesse ich, was ich alles schon geschafft habe und zweifle an mir. Wie in einer echten WG streiten wir auch über Dinge oder Aufgaben und deren Verteilung. Ständig wird darum gerangelt, wer in der WG das Sagen hat. Das kann ich in meinem Kopf hören und manchmal ist es Geschrei, es wird geweint, aber auch Schimpfwörter kann ich vernehmen. Nicht alle dieser WG-Mitbewohner*innen mögen sich untereinander und jeder Teil denkt, er könnte es besser als der andere. Manche halten sie sich aus allem raus, weil sie Angst haben, etwas Falsches zu sagen. Andere werden übergangen und wieder andere versuchen, mit aller Macht ihren Kopf durchzusetzen. Manchmal schaden sie mir auch und beschimpfen mich und mein Körper fängt an, wie ein Fisch auf dem Trockenen zu zucken. Das passiert zum Glück nicht jeden Tag, aber es befördert mich meist komplett ins Aus. Ich kann nichts mehr machen und bin dem Zucken und Krampfen ausgeliefert. Unter Menschen schäme ich mich oft dafür, denn mein Verhalten fällt dann sehr stark auf und das möchte ich gar nicht. Das meiste davon bekomme ich bewusst mit und merke, wie stark die Schmerzen beim dauernden Krampfen sind. Meine Migräne ist an der Stelle ein Dauerbegleiter, der sich dann blicken lässt, wenn ich stark fühle; vielen Reizen ausgesetzt bin und diese verarbeite, getriggert werde oder ich in ungewohnten Situationen bin. Die Migräne tritt auch dann ein, wenn ich mich einfach sehr stark freue. 

Es gibt Tage, da hasse ich die WG, weil die einzelnen Teile einfach nie aufhören zu streiten und mich dies auch im Alltag ablenkt. In Gesprächen möchte ich meinem Gesprächspartner zuhören, aber wenn man Stimmen ähnlich wie ein Radio im Hintergrund dazwischen hat, fällt das Zuhören ziemlich schwer. Manchmal muss ich mir Ausreden einfallen lassen, wenn mir jemand sagt: „Wir haben das doch besprochen“ und ich kann mich an wenig oder gar nichts davon erinnern, weil gerade Alexander im Gespräch mit der Person war und nicht ich. Für Außenstehende ist es kaum zu sehen, denn diese Krankheit versucht mir ein Leben ohne Traumata zu ermöglichen. Es wurde in verschiedenen Bereichen meines Gehirns abgespeichert und ich kann auf diese nicht bewusst zugreifen. Ich habe viele Jahre später erfahren, dass ich als Kind bereits mehrfach und jahrelang Misshandlung erfahren musste, aber als ich davon hörte, konnte ich mich an so gut wie nichts davon erinnern. Einige Traumata sind mir jedoch schon im Gedächtnis geblieben, denn auch der bewusste Teil, also ich selbst, hat Dinge erleben müssen. Andere Teile können sich erinnern, erzählen es mir aber nicht, weil sie mich beschützen wollen. Dadurch sind sie misstrauisch anderen gegenüber, schnell wütend oder auch sehr ängstlich. Ich bin es in dieser Situation nicht, sie aber schon. Ich muss mich nicht fürchten, weil sie es für mich tun. Jetzt denkt man sicherlich: „Cool, alles Schlimme wird von einem fern gehalten und man lebt ziemlich locker, fluffig und ohne Probleme.“ Nein, eben nicht! Manchmal spüre ich die Krankheit mehr, manchmal weniger, aber sie beeinflusst alles. Meine Partnerschaft wird von der WG wie ein Feind behandelt, nie als Mensch, der mich liebt und ständig muss ich mir anhören: „Das wird schlimm ausgehen für uns alle“. Das gleiche passiert mit Freundschaften. Meine WG meint immer, sie wüsste was gut für mich ist. Das tut sie auch, aber sie lebt in alten Traumata und nicht in der Realität. Manche Mitbewohner*innen meiner WG haben weniger Traumata oder gar keine und können demnach etwas positiver an Dinge herangehen. Diese Teile wollen Ziele im Leben erreichen, so dass es uns allen gut geht, aber sie müssen ständig gegen jene kämpfen, die Angst davor haben oder dagegen sind. Das geht so weit, dass ich Kleidungsstücke in meinem Schrank habe, die ich nicht kenne und nie gekauft habe. Nun, jeder Teil hat auch einen eigenen Kleidungsstil oder Lieblingskleidungsstücke. 

Gar nicht so leicht, es jedem der Teile recht zu machen. Nach vielen Jahren haben wir es geschafft, eine Art Demokratie zu etablieren. Das heißt, die Mehrheit entscheidet zum Schluss. Tja, eigentlich müsste ich das ja sein, aber leider bin ich nicht die Mehrheit. Selbst meine Psychotherapie wird manchmal sabotiert, indem die Teile in mir andere Dinge erzählen als ich oder man sehr negativ der behandelnden Person gegenüber ist. Manche Teile wollen keine Therapie und versuchen mich immer wieder zu überreden, das abzubrechen. Andere finden es gut und sehen, wie gut es mir tut. Kinderanteile können dazu nichts sagen, weil sie manchmal gerade so schreiben oder lesen können. Dann gibt es jene Teile, die sich um die Kleinen kümmern, sie sind selten außen, sondern meist nur innen und beschäftigen diese Teile, indem sie trösten oder mit ihnen spielen. 

Trauma-Therapeut*innen zu finden ist ziemlich schwierig, da es sie nicht so häufig gibt und sehr oft wird mir von den Behandelnden auch kein Glauben geschenkt. Ich muss also auch noch darum kämpfen, dass meine Erkrankung gesehen und anerkannt wird. Dann gibt es leider Verschwörungen wie die Satanic Panic, die es einem dann auch noch erschweren, glaubwürdig zu sein. Es gibt ganze Tage und Wochen, die verschwinden, manchmal kennt man die Leute gar nicht, die mit einem reden, weil man eben nicht anwesend war. Mittlerweile spricht die WG auch miteinander darüber, was Einzelne tun oder getan haben, aber es handelt sich dabei nicht immer um die Wahrheit und ist für mich auch nicht immer nachvollziehbar. So gesehen bin ich nie alleine, zahle dafür aber auch einen hohen Preis. Es war keine bewusste Entscheidung für ein Rollenspiel, das ich freiwillig gewählt habe. Meine Psyche hat sich selbst geschützt, weil ich es nicht konnte. Auch wenn dieses Leben oft sehr anstrengend ist und ich nicht immer alles, was um mich herum und mit mir passiert, mitbekomme, möchte ich es nicht hergeben. Im Prinzip habe ich mir selbst geholfen und tue es nach wie vor. Ich war nie schwach oder unfähig, ich habe nur einen anderen Weg gefunden, den viele Menschen sich nur schwer vorstellen können. Ich denke, zur Identität gehören die Dinge, die dich zu dem Menschen gemacht haben, der du heute bist und wie du damit umgehst. Man muss jeden Tag wieder entscheiden, wer man sein will und darf dabei nicht vergessen, dass diese Entscheidungen auch andere Menschen beeinflussen können. Dein Leben gehört dir und niemandem sonst.

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