TW: Selbstverletzendes Verhalten, Suizidversuche
„Ich liege spät abends wach in meinem Bett – eigentlich müsste ich schlafen, morgen steht ein Mathetest an und ich bin ohnehin schlecht in Mathe. Sicher werde ich in dem Test eine schlechte Note schreiben, so wie die letzten Male auch. Und wenn ich schlechte Noten schreibe, wird Mama nicht begeistert sein. Ich muss aber verhindern, dass sie schlechte Laune bekommt wegen meiner schlechten Noten – wenn nicht, endet das wieder in Streit und nach dem letzten Streit hatte Mama am nächsten Morgen einen Verband um ihren Arm. Sie sagt es mir zwar nicht jedes Mal, aber ich weiß, dass es meine Schuld ist, dass sie sich nachts an den Armen geritzt hat.”
So und ähnlich sahen meine Tagebucheinträge während meiner Pubertät häufig aus.
Anfangs drehten sich meine Gedanken darum, wie ich mein Verhalten so anpassen konnte, dass ich so wenig Schuld wie möglich an dem Verhalten meiner Mutter hatte.
Später machte ich mir Gedanken, wie ich das selbstverletzende Verhalten meiner Mutter aufhalten könnte. So lag ich abends oft lange wach und versuchte zu hören, wenn meine Mutter ins Bad ging, denn dort, vermutete ich, würde sie sich selbst verletzen. Ich dachte damals, ich könnte sie aufhalten. Oft bin ich zum Bad gelaufen, habe angeklopft und vorgetäuscht, etwas aus dem Bad zu benötigen.
Natürlich konnte ich nicht verhindern, dass meine Mutter sich selbst verletzte. Außer Schlafmangel, chronischen Schlafstörungen und noch mehr Schuldgefühlen hat mir mein Verhalten und meine Denkweisen nichts gebracht.
Grundsätzlich gab ich mir fast immer die Schuld an dem selbstverletzenden Verhalten meiner Mutter. Auch für viele Suizidversuche gab ich mir die Schuld.
Wie sollte ich es auch anders gelernt haben? Es gab Zeiten, in denen meine Mutter mir sagte, dass ich schuld daran bin, dass es ihr schlecht ging. Wenn ich eine schlechte Note schrieb und wir deshalb stritten. Wenn ich mich weigerte, mehr im Haushalt mitzuhelfen. Wenn ich zu spät heim kam. Meistens sagte sie jedoch nichts. Und trotzdem gab ich mir die Schuld, wenn ich ihre Narben sah oder merkte, dass es ihr psychisch schlecht ging.
Später, als ich ausgezogen bin, verlagerten sich meine Schuldgefühle und bezogen sich nicht mehr nur auf das selbstverletzende Verhalten meiner Mutter. Ich gab mir immer öfter die Schuld an den verschiedensten Sachen in meinem Leben. Zum Beispiel wenn es Unstimmigkeiten oder Konflikte auf der Arbeit gab, überlegte ich danach tagelang, inwiefern ich schuld daran war. Bei Streit mit dem Partner oder in Freundschaften plagten mich nächtelang Schuldgefühle und ich war mir unwiderruflich sicher, dass ich der Auslöser für den Streit war.
Es dauerte sehr lange, bis ich in meiner Verhaltenstherapie lernte, dass ich nicht an allem schuld bin. Und besonders, dass ich nicht schuld an der Krankheit meiner Mutter bin und den daraus resultierenden Verhaltensweisen wie z.B. dem selbstverletzenden Verhalten.
Auch wenn ich mit Schuldgefühlen mittlerweile besser umgehen kann, ist das Gefühl von Schuld trotzdem sehr oft ein ständiger Begleiter in meinem Leben. Ich denke, das wird auch immer ein Stück weit so bleiben, denn Schuldgefühle waren zu lange mein alltäglicher Begleiter, in einer Zeit, in der ich Sicherheit und Geborgenheit benötigt hätte.
Aber ich denke, das ist okay so. Ich werde meinen Weg finden, mit den andauernden Schuldgefühlen jeden Tag ein wenig besser umzugehen.
Offen über psychische Erkrankungen reden und darüber, wie das Leben als Angehörige sein kann – für mich war das früher als Teenager nicht möglich. Aber ich wünschte mir schon damals mehr Offenheit zu diesem Thema sowie einen Austausch mit anderen Angehörigen, um zu merken, dass ich nicht alleine bin. Mit meiner Arbeit bei Locating Your Soul möchte ich dazu beitragen, dass es endlich normal wird, über psychische Erkrankungen zu sprechen – oder zu schreiben.