Wenn man auf Social Media unterwegs ist, trifft man immer häufiger auf die Begriffe Trigger, toxisch oder Trauma. Auch Selbstdiagnosen haben durch Social Media zugenommen. Diese werden besonders durch kurze TikTok-Videos oder Instagram-Reels ausgelöst, in denen psychiatrische Diagnosen so auf einzelne Symptome heruntergebrochen werden, dass sich möglichst viele darin wiederfinden. Gleichzeitig ist es jedoch auch wichtig, auf Social Media über psychische Erkrankungen zu sprechen, um Vorurteilen entgegenzuwirken. Doch wo hört Enttabuisierung auf und wo beginnt die Verherrlichung von Erkrankungen?
Um diese Frage geht es in dem Buch „Digitale Diagnosen“ von Laura Wiesböck, welches Anfang des Jahres im Paul Zsolnay Verlag erschienen ist. Auf 176 Seiten betrachtet die Autorin die Enttabuisierung, Glamourisierung und Kommerzialisierung von psychiatrischen Diagnosen auf Social Media.
Zu Beginn stellt Wiesböck kurz dar, welchen Beitrag Social Media zur Entstigmatisierung von psychischen Erkrankungen leisten kann: Ein offenes Thematisieren könne dazu beitragen, das Bild von psychischen Erkrankungen zu verändern und es für Betroffene einfacher machen, sich Hilfe zu holen. Social Media biete außerdem eine Plattform, auf der sich Betroffene niedrigschwellig miteinander austauschen können – in einer Art digitalen Selbsthilfegruppe.
„Aus klinischer Sicht kann das facettenreiche Spektrum von Krankheitsbildern in komprimiert aufbereiteten Instagram-Slides oder kurzen TikTok-Videos kaum ausreichend erfasst werden.“ (S. 17)
Doch das bringe auch Gefahren mit sich: Es könne zum Beispiel Druck entstehen, „wenn sich die eigene Depression nicht wie das bildschirmtaugliche ‚beautiful suffering‘ von Influencer:innen darstellt“ (S. 14). Das Erstellen von Content über die eigene Erkrankung könne zudem dazu führen, dass man sich zu stark mit der Diagnose identifiziert.
Die inflationäre Verwendung von psychiatrischen Diagnosebegriffen sowie das Herunterbrechen von Erkrankungen auf einzelne Symptome könne dazu beitragen, dass die jeweiligen Erkrankungen verharmlost werden – gerade, weil dieser Content oftmals so angelegt sei, dass sich möglichst viele Menschen darin wiederfinden.
„Sich in Symptombeschreibungen auf sozialen Medien wiederzuerkennen, bedeutet jedoch erst einmal nichts anderes, als ein bestimmtes Verhalten an sich zu beobachten.“ (S. 33f.)
Die Autorin geht im Weiteren auf die Kommerzialisierung von psychiatrischen Diagnosen ein und kritisiert die Vermarktung von Produkten und therapeutischen Angeboten durch Influencer:innen. Selfcare werde häufig mit dem Konsum von Produkten und Dienstleistungen verbunden, sodass Me-Time statt zur Erholung eher zu einem weiteren Stressfaktor werde.
„Dieses aufmerksamkeitsbasierte Anreizsystem steht einem ethischen und differenzierten Umgang mit medizinischen Inhalten im Bereich psychischer Gesundheit entgegen – auch dann, wenn hinter dem Veröffentlichen von Tipps und Informationen gute Absichten stecken.“ (S. 71)
Laura Wiesböck stellt abschließend ausführlich dar, wie gefährlich es sei, wenn Betroffene auf Social Media von ihren Erfahrungen mit psychischen Erkrankungen erzählen: Es gebe viel Laienexpertise von Betroffenen, die sich auf persönliche Erfahrungen stützen. Das mache einen laut der Autorin nicht zu einer:m Expert:in und genau hier bestehe die Gefahr, da viele Nutzende Erfahrungswissen und Expert:innenwissen nicht voneinander unterscheiden können.
Persönliches Fazit
Das Buch hat mich sehr interessiert, da ich selbst viel in der Mental-Health-Bubble auf Instagram unterwegs bin und auch eigenen Content darüber erstelle. Dadurch bin ich vielleicht auch etwas voreingenommen, was den folgenden Kritikpunkt angeht: Mir hat das Buch beim Lesen das Gefühl vermittelt, dass man ohne fachliche Qualifikation gar nicht über psychische Erkrankungen sprechen sollte. Das finde ich sehr problematisch. Auch Erfahrungswissen ist eine Expertise und gerade im Krankheitsbezug ein wichtiger Aspekt – sonst dürfte es zum Beispiel auch keine Selbsthilfegruppen mehr geben.
Natürlich besteht gerade auf Social Media immer die Gefahr, dass sich Menschen vergleichen, Informationen nicht genug hinterfragen und sicherlich gibt es auch viele, die das Thema Mental Health nutzen, um Klicks und Gewinne zu generieren. Aber man kann hier nicht alle Content Creator:innen über einen Kamm scheren.
Ich frage mich dabei außerdem, wozu es führen würde, wenn nur Fachpersonen über psychische Erkrankungen sprechen dürften. Das würde aus meiner Sicht bedeuten, dass sich Betroffene mit ihren Erkrankungen verstecken müssen, nicht darüber sprechen dürfen und psychische Erkrankungen wieder stärker zurück ins Tabu rücken. Und das kann doch nicht die Message sein! Natürlich sollten sich Personen, die auf Social Media über Erkrankungen berichten, darüber im Klaren sein, dass damit auch eine gewisse Verantwortung einhergeht. Aber ansonsten ist es doch gut, wenn mehr Betroffene Gesicht zeigen, um den noch immer vorherrschenden Vorurteilen über psychische Erkrankungen etwas entgegenzusetzen.

Ich bin Mandy, 28 Jahre alt und mit einem alkoholkranken Vater aufgewachsen. In meiner Kindheit hätte ich mir gewünscht, dass mehr über psychische Erkrankungen gesprochen wird. Denn dann hätte ich mich vielleicht ein bisschen weniger allein und überfordert gefühlt. Auch jetzt gibt es immer noch viel zu viele Vorurteile, die Betroffene und Angehörige zusätzlich belasten. Deshalb freue ich mich, mit Locating Your Soul einen Beitrag zur Entstigmatisierung von psychischen Erkrankungen zu leisten.