TEIL 2: Harte Fakten über Psychopharmaka

Medikamenteverpackungen

Neben den persönlichen Erfahrungen und Gedanken unserer Redakteurin Alina zum Thema Psychopharmaka gibt es wissenschaftliche Informationen, die es sich lohnen eingehend betrachtet zu werden. Die nachfolgende sind aufgrund der Komplexität sehr stark verkürzt (mehr Informationen sind in den unten genannten Quellen zu finden). Hier sind die wichtigsten Fakten differenziert recherchiert und zusammengetragen.

Auch wenn die nachfolgenden Informationen im ersten Moment erschreckend, wenn nicht sogar abschreckend sein können, so hilft es vielleicht meinen Erfahrungsbericht „Mit oder ohne?!“ zu lesen, um auch die Perspektive einer psychisch Erkrankten mit Medikamentenerfahrung zu sehen. Psychopharmaka haben einen starken Einfluss auf unsere Psyche, ihre Vor- und Nachteile sollten immer im Zusammenhang mit dem Leidensdruck abgewogen werden.

Was sind Psychopharmaka?

Psychopharmaka sind Mittel, die dazu angewendet werden, Fehlregulationen, die im Rahmen von Stoffwechselprozessen in unserem Gehirn stattfinden, zu beheben und zu normalisieren. Klassisch sind:

  • Antidepressiva
  • Stimmungsstabilisierer
  • Antipsychotika/Neuroleptika
  • Tranquilizer (Beruhigungsmittel)
  • Hypnotika (Schlafmittel)
  • Antidementiva, Psychostimulanzien
  • Entzugs- und Entwöhnungsmittel

Dabei sind die einzelnen Medikamentengruppen nicht auf eine Störungsgruppe festgelegt. So gibt es z.B. Neuroleptika, die auch bei affektiven Störungen wie Depressionen, sehr wirksam sind. [1]

Es gibt sie in unterschiedlichen Formen: als Tabletten, Schmelztabletten, Dragees, Kapseln, Tropfen, Lösungen und als Injektionspräparate.

Wie wirken sie und welchen Nebenwirkungen könne sie haben?

  • Psychopharmaka wirken vor alle im Bereich unserer Rezeptoren, den Bindungsstellen der Nerven. Sie beeinflussen die Bildung, Speicherung oder Freisetzung von Neurotransmittern wie z.B. Serotonin oder Dopamin.
  • Wie alle Medikamente haben auch Psychopharmaka Nebenwirkungen. Diese sind von Medikament zu Medikament und ihrer Wirkungsweise unterschiedlich. Neben kurzfristigen Nebenwirkungen kann es auch zu Langzeitfolgen kommen. Für alle Nebenwirkungen gelten unterschiedliche Auftretenswahrscheinlichkeiten. Im Folgendem sind verschiedene Substanzgruppen und Substanzen mit ihren häufigsten Nebenwirkungen aufgelistet:

Mögliche Nebenwirkungen von Antidepressiva

  • Trizyklische Antidepressiva: Herzrhythmusstörungen, Senkung Krampfschwelle, Absetzsyndrome
    • MAO-Hemmer (Inhibitoren der Monoaminoxidase): Senkung Blutdruck
    • Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer: zu Beginn häufig Übelkeit und Unruhe
    • Selektive Serotonin- und Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer: zu Beginn häufig Übelkeit und Unruhe, Blutdruckerhöhung
    • Weitere, z. B. Mirtazapin: Gewichtszunahme, Müdigkeit, prätibiale Ödeme
    • Bei vielen der Substanzen: Sexuelle Dysfunktion

Mögliche Nebenwirkungen von Neuroleptika

  • Clozapin: Agranulozytose, Gewichtszunahme, Senkung Krampfschwelle, Diabetische Ketoazidose, Hypersalivation, Myokarditis
    • Olanzapin: Blutbildveränderungen, Gewichtszunahme, Senkung Krampfschwelle
    • Quetiapin: Schwindel, Gewichtszunahme, Blutbildveränderungen, Senkung Krampfschwelle, QT-Verlängerung
    • Risperidon: Parkinsonoid, Hyperprolaktinämie, Gewichtszunahme

Mögliche Nebenwirkungen von Antidementiva

  • Acetylcholinesterasehemmer: Übelkeit, Schwindel, Appetitlosigkeit, Durchfall, Kopfschmerz, Bradykardien, Synkopen
    • NMDA-Antagonist: Schwindel, Kopfschmerz, Obstipation, erhöhter Blutdruck, Schläfrigkeit

Mögliche Nebenwirkungen von Stimmungsstabilisierer

  • Lithium: Nierenfunktionsstörungen, Tremor (Zittern), Gewichtszunahme, Gesichts- und Knöchelödeme, Übelkeit, Durchfall, Hypothyreose
    • Valproat: Leberfunktionsstörungen, Thrombozytopenie, Leukozytopenie

Mögliche Nebenwirkungen von Beruhigungsmittel (Benzodiazepine)

  • Diazepam, Lorazepam: bei zu schneller Injektion Atemdepression
    • Allgemein: Abhängigkeitsgefahr

Es gibt über alle Medikamente hinweg auch Nebenwirkungen wie Blutbildveränderungen, Hautnebenwirkungen, Extrapyramidalmotorische Nebenwirkungen oder auch Sedierung.

Grundsätzlich kann es zu starken Nebenwirkungen in Kombination mit anderen Medikamenten, aber auch Alkohol und pflanzlichen Mitteln kommen. Deswegen sollte man sich diesbezüglich besonders gut informieren und mit seinem Arzt sprechen.

Kommt es zu ernstzunehmenden Nebenwirkungen wird das verursachende Medikament oft abgesetzt und eine Alternative eingesetzt.

Die eigenen körperlichen Voraussetzungen, z.B. Diabetes, stellen immer Faktoren zur Begünstigung von Nebenwirkungen bestimmter Medikamente dar.

Die meisten der Nebenwirkungen treten nur in den ersten Wochen auf und reduzieren sich selbstständig.

Viele der Nebenwirkungen müssen nicht auftreten![2]

Wer verschreibt Psychopharmaka?

  • Nur Ärzt:innen dürfen Psychopharmaka verschreiben, im Falle von Betroffenen verschreibt der:die Hausarzt:in oder Psychiater:in.

Wie viele Psychopharmaka werden verordnet?

In Abbildung 1 kann man sehen, dass gerade die Verordnungen für Antidepressiva über die letzten zehn Jahre enorm angestiegen ist.

Abbildung 1 Verordnungen von Psychopharmaka 2010 bis 2019. Gesamtverordnungen nach definierten Tagesdosen[3]

Tatsächlich sind Antidepressiva aber nicht die erste Wahl bei der Behandlung von leichten Depressionen und die Studienlage zur Wirksamkeit dieser gerade bei leichten bis mittelschweren Erkrankungsverläufen spricht eher gegen eine medikamentöse Therapie, zumindest als alleinige Behandlungssäule.

In den USA sind die Suizidtoten trotz vermehrter Verordnung angestiegen und auch in Deutschland gibt es keine Beweise dafür, dass die Verordnung dieser Medikamente suizidale Handlungen reduzieren.[4]

Die anderen Medikamentengruppen (Neuroleptika, Antidementiva & Stimmungsstabilisierer) sind nicht ganz so widersprüchlich bezüglich Verordnungen und Wirksamkeit, stehen jedoch ebenfalls in vielen Studien in der Kritik. Es wird häufig dafür plädiert mit Niedrigdosen zu arbeiten und gerade bei älteren Patient:innen, sowie bei Kindern und Jugendlichen kritischer, besonders im Hinblick auf starke Nebenwirkungen, mit der medikamentösen Behandlung umzugehen.[5]

Warum werden immer mehr Psychopharmaka verschrieben?

Aber warum steigt dann die Anzahl der Verordnungen trotzdem an? Es gibt Studien, die davon ausgehen, dass nicht die Anzahl der psychischen Krankheiten in der Bevölkerung an sich steigt, sondern die Wahrnehmung von Krankheiten und damit die Inanspruchnahme von psychologischer Betreuung/Behandlung ansteigt.[6] Dementsprechend nehmen Menschen auch mehr medikamentöse Therapie in Anspruch.

Was nicht bedeuten soll, dass Ärzt:innen nicht grundsätzlich vielleicht auch leichtfertiger Medikamente verordnen. Dies könnte ebenfalls eine Erklärung für den Anstieg in den letzten Jahren sein.

Da aber auch oft psychotherapeutische Behandlungsmöglichkeiten fehlen (z.B. durch lange Wartelisten), Ärzt:innen selbst von Zeitmangel betroffen sind und Patient:innen diese gelegentlich sogar selbst unter Druck setzen, um wieder schnell „funktionieren“ zu können, kommt es wie durch solche Statistiken vermutet auch immer wieder zu Medikamentenmissbrauch und -abhängigkeit.[7]

Was ist mit Absetzen?

Das Einnehmen dieser Medikamente scheint beim Blick auf die Zahlen heutzutage nicht besonders schwer zu sein. Vermuten lässt sich, dass sie zu schnell verordnet werden und Betroffene sich nicht ausreichend über alle Folgen und auch über Schwierigkeiten des Absetzens informieren und bedenkenlos Medikamente einwerfen. Vergessen darf man aber auch hier nicht – selbst der Beginn der Einnahme ist schon durch starke Nebenwirkungen geprägt, nicht nur das Absetzen. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass die medikamentöse Therapie gelegentlich schon zu Beginn abgebrochen wird. Darüber hinaus überwinden viele Betroffene die schwere Anfangszeit und nehmen diese Medikamente über Monate und Jahre. Bei den Beruhigungsmitteln ist es durch ihre körperliche Abhängigkeitsgefahr schwieriger, so werden diese aber auch immer weniger verschrieben und mit begrenzten Einnahmezeiten verordnet.

Abgesehen davon, tauchen nach dem Absetzen die Symptome der Erkrankung wieder auf – die muss die Psyche ja nun wieder selbst versuchen, zu regulieren. Und genau hier berichten viele Betroffene, dass sie ja doch nicht von ihren Medikamenten loskommen, ergo abhängig von ihnen sind. Das ist eine psychische Abhängigkeit, die mit einer begleitenden Therapie gut überwunden werden kann.

Eine solide therapeutische Basis und Begleitung ermöglicht es, ein Absetzen zu planen, Rückfälle zu berücksichtigen und Krisen im Zusammenhang damit erfolgreich zu meistern. Grundsätzlich sollte nie auf eigene Faust ein Medikament abgesetzt werden Jann E. Schlimme und Uwe Gonther haben die „Technik der Medikamentenreduktion“ und wie dies gelingen kann sehr detailliert beschrieben.[8]

Quellen

[1] Dietmaier, O., Schmidt, S. & Laux, G. (2019): Pflegewissen Psychopharmaka. Springer.

[2] Klein, J. P. & Klein, E. M. (2021): Psychopharmakatherapie. In: Mein Leitfaden Psychiatrie: Basiskompetenzen für den Klinikalltag. Springer.

[3] Lohse 2020

[4] Bschor, T., Müller-Oerlinghausen, B. (2014): Antidepressiva verringern nicht das Risiko von Suiziden oder Suizidversuchen bei depressiven Patienten: Eine Entgegnung zur Presseerklärung der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN). Arzneiverordn Prax 41(2):2–4

[5] Lohse, M. J. (2020): Psychopharmaka. In: Schwabe, U., Ludwig, W. D. (Hg.): Arzneiverordnungs-Report 2020. Springer, Berlin, Heidelberg.

[6] Richter, D. & Berger, K. (2013): Nehmen psychische Störungen zu? Psychiatrische Praxis, 40(04), 176–182.

[7] Dietmaier, O., Schmidt S., Laux G. (2019): Sucht – machen Psychopharmaka abhängig? In: Pflegewissen Psychopharmaka. Springer, Berlin, Heidelberg.

[8] Gonter, U., Schlimme, J. E.: Die Technik der Medikamentenreduktion.

Weitere Informationsquellen:

Schirmer, U. (2020): Psychopharmakotherapie und Empowerment – Ein Trainingsprogramm zum selbstständigen Medikamentenmanagement. Psychiatrie Verlag.

DGSP (Hg.) (2014): Neuroleptika reduzieren und absetzen – Eine Broschüre für Psychose-Erfahrene, Angehörige und Professionelle aller Berufsgruppen.

Es gibt einen sehr guten Film auf DVD mit Betroffenen, Angehörigen und Profis, den jemand besprechen könnten: Stolz, P., Kalms, J., Winkels, S.: Nicht alles schlucken – Krisen und Psychopharmaka (DVD). Psychiatrie Verlag.

Für Interessierte könnten wir auf den Beipackzettel eines Medikamentes verweisen, z.B. hier und/oder hier.

2 Kommentare zu „TEIL 2: Harte Fakten über Psychopharmaka“

  1. Guten Tag Alina,
    ich bin Psychiater mit langer Berufserfahrung und Ko-Autor eines Ratgeberbuchs für Patient*innen und Angehörige, das im Psychiatrie-Verlag erschienen ist. Ich habe eben Ihre Informationen zu Psychopharmaka gelesen, weil ich es immer schon wichtig fand, dass solche Informationen so sein müssen, dass jede*r sie versteht. Aus diesem Grund habe ich mit zwei Kolleginnen das Ratgeberbuch geschrieben, und ich war auch beteiligt an Informationsschriften des BApK zu Psychopharmaka.
    Das Buch heißt „Umgang mit Psychopharmaka“ und ist im Psychiatrie-Verlag erschienen. Wenn Sie es vielleicht kennenlernen mögen, würde ich Ihnen gerne ein Exemplar kostenlos zuschicken lassen, sozusagen unter Kollegen.
    Gerne können Sie mir auch eine Antwort-Mail schicken.
    Mit freundlichen Grüßen
    Nils Greve

    1. Ich fühle mich geehrt, dass Sie meinen Beitrag gelesen und sogar kommentiert haben! Das Thema liegt mehr sehr am Herzen und ist leider immer noch sehr verwirrend für Erkrankte und auch Angehörige. Ich würde mich sehr über das Buch freuen!

      Liebe Grüße,
      Alina

Kommentarfunktion geschlossen.