Zwei Schwestern und eine alkoholkranke Mutter. Gefangen zwischen Verantwortung und Schuld. Zwischen Sorge und Wut. Ein Setting, das mir bekannt vorkommt – nur dass es bei mir der Vater war. Und keine Wut, sondern einfach nur große Überforderung.
Das oben beschriebene Setting ist die Ausgangssituation in den Büchern „22 Bahnen“ und „Windstärke 17“ von Caroline Wahl. In „22 Bahnen“ liegt der Fokus auf Tilda, der großen Schwester von Ida. Tilda studiert Mathematik, jobbt nebenbei im Supermarkt und kümmert sich um ihre kleine Schwester. Sie sorgt dafür, dass es zuhause was zu Essen gibt, während ihre Mutter auf dem Sofa liegt und nichts macht. Tilda bekommt die Möglichkeit, sich für eine Promotionsstelle in Berlin zu bewerben. Das wäre eine tolle Chance für sie, doch sie hadert sehr damit, ob sie Ida mit ihrer Mutter alleine lassen kann.
In „Windstärke 17“ liegt der Fokus dann auf Ida. Die Mutter ist inzwischen verstorben und in Ida tobt ein großer Gefühlsklumpen aus Trauer, Wut und Schuld. Sie hält es in ihrem Heimatort nicht länger aus und fährt mit dem Zug nach Rügen. Dort trifft sie auf ein paar Menschen, in deren Gegenwart sich das Leben für Ida ein bisschen besser aushalten lässt.
Als ich die beiden Bücher gelesen habe, hat das viele Erinnerungen aus meiner eigenen Geschichte hochgeholt. Einiges kam mir sehr bekannt vor, anderes habe ich so nicht erlebt, aber war immer genau meine Angst. Es war sehr aufwühlend, die beiden Bücher zu lesen, aber ich bin auch froh, dass ich es gemacht habe. Denn irgendwie hat es mir nochmal eine andere Perspektive auf meine eigene Geschichte gegeben.
Auf drei Themen, die mich besonders beschäftigt haben, möchte ich jetzt noch ein bisschen genauer eingehen.
„Am liebsten würde ich ihr einfach die Wahrheit sagen, aber irgendwie wollen die Worte nicht raus. Mama trinkt wieder mehr, ich will Ida abends nicht allein mit ihr lassen. 13 Worte.“
– 22 Bahnen, S. 23f.
Tilda sagt anderen Menschen gegenüber nicht den wahren Grund, wieso sie eine Verabredung absagt oder in der Uni fehlt. Sie würde gerne die Wahrheit sagen, aber sie traut sich nicht. Diesen Zwiespalt kenne ich auch sehr gut. Ich habe mich dafür geschämt und hatte Sorge, dass mein Gegenüber mich für die Erkrankung meines Vaters verurteilt. Gleichzeitig wurde mir auch von Zuhause immer eingebläut, bloß niemandem davon zu erzählen. Das führt dazu, dass ich auch jetzt – im Nachhinein – noch große Hemmungen habe, jemandem zu erzählen, dass mein Papa alkoholabhängig war. Ich merke dann richtig, wie mein Körper zittrig und meine Stimme ganz unsicher wird. Dabei wäre es so hilfreich, wenn man mit anderen Menschen offen(er) darüber sprechen könnte. Das könnte einem einen kleinen Teil der Last abnehmen.
„[…] ich habe mir angewöhnt, einzelnen Schritten nicht zu viel Bedeutung beizumessen, nicht zu viel Hoffnung in eine langfristige Veränderung zu stecken. Ich weiß, wie schnell es umschlagen kann, wie weit und mit welcher Wucht man nach einem Schritt in eine gute Richtung zurückgeworfen werden kann.“
– 22 Bahnen, S. 161
Die Krankheit der Mutter ist geprägt von Hochs und Tiefs. Tilda und Ida scheinen immer nur auf den Moment zu warten, wenn die Stimmung nach einem Hoch wieder kippt. Wenn sie nach Hause kommen, achten sie auf vermeintliche Kleinigkeiten und checken damit ab, was sie wohl hinter der Haustür erwarten wird.
Diese ständige Alarmbereitschaft kommt mir selbst auch sehr bekannt vor. An Kleinigkeiten zu merken, ob ein guter oder schlechter Tag ist. Bei mir hat das zu einer konstanten Anspannung geführt. Eigentlich ist es schade, dass man sich über gute bzw. bessere Phasen nicht wirklich freuen kann, weil man direkt skeptisch ist, wie lange das wohl anhalten wird. Aber es ist auch einfach ein großer Selbstschutz, sich in guten Phasen nicht zu viel Hoffnung zu machen, weil man sonst eh nur immer wieder enttäuscht wird.
„Ich will lauter als der Wind sein, ihm zeigen, dass ich viel wütender bin als er, dass ich es mit ihm aufnehmen kann. Ich brülle ihn an mit aller Kraft, die ich habe.“
– Windstärke 17, S. 42
Der Wald ist für Tilda und Ida ein sicherer Zufluchtsort. Wenn sie es zuhause nicht mehr aushalten, rennen sie in den Wald. Dort setzen sie sich auf einen Baumstamm – Tilda mit ihren Matheaufgaben und Ida mit ihrem Malzeug. Oder sie nutzen die Ruhe der Natur, um ihre ganze angestaute Wut rauszuschreien.
Als ich „Windstärke 17“ gelesen habe, hatte ich irgendwie erst einmal eine Abneigung gegen Ida. Da war so viel Wut. Das wirkte so gewaltig. Ich glaube, das ist auch einer der Gründe, wieso es mir so schwerfällt, selbst Wut zuzulassen. Ich habe Angst vor diesem gewaltigen Gefühl. Davor, dass es mich mit seiner Kraft überwältigt und ich damit nicht umgehen kann. Deshalb habe ich damals auch nie wirklich Wut über die Situation zuhause gespürt. Da war Sorge, Angst und ganz viel Überforderung. Aber keine Wut.
Wenn ich jetzt über Tilda und Ida nachdenke, wirkt ihre Wut sehr nachvollziehbar. Wie ein wichtiges Gefühl. Nachdem ich die beiden Bücher von Caroline Wahl gelesen habe, denke ich: Vielleicht hätte ich auch Wut spüren dürfen. Vielleicht darf ich auch jetzt noch Wut darüber verspüren. Vielleicht hilft es, die Wut rauszulassen, anstatt alle Gefühle in sich aufzustauen. Vielleicht bringt das ein kleines bisschen Erleichterung.
Ich bin Mandy, 28 Jahre alt und mit einem alkoholkranken Vater aufgewachsen. In meiner Kindheit hätte ich mir gewünscht, dass mehr über psychische Erkrankungen gesprochen wird. Denn dann hätte ich mich vielleicht ein bisschen weniger allein und überfordert gefühlt. Auch jetzt gibt es immer noch viel zu viele Vorurteile, die Betroffene und Angehörige zusätzlich belasten. Deshalb freue ich mich, mit Locating Your Soul einen Beitrag zur Entstigmatisierung von psychischen Erkrankungen zu leisten.